Samstag, 7. Juli 2012
Was sagt die Forschung
Kein Zweifel, der Begriff „metabolische Chirurgie“ ist geschickt gewählt, weil er die
Hoffnung weckt, dass die bariatrische Chirurgie damit adipositas-assoziierte Stoffwechselstörungen,allen voran Typ-2-Diabetes mellitus, beseitigen kann.
Doch lässt sich dieses Versprechen wirklich einlösen oder handelt es sich eher um ein
cleveres Marketingkonzept, um das Geschäft anzukurbeln, was den Verfechtern der „metabolischen Chirurgie“ gerne unterstellt wird? Um diese und weitere Fragen im Zusammenhang mit der Adipositaschirurgie dreht sich das aktuelle Heft der Adipositas.
Im Mittelpunkt stehen zwei Beiträge von renommierten Vertretern der konservativen
und chirurgischen Adipositastherapie, Herrn Prof. Rudolf Weiner und Herrn
Prof. Alfred Wirth, die den aktuellen Diskussionsstand umfassend widergeben, aber
auch eigene Bewertungen vornehmen. Tatsache ist, dass ein bariatrischer Eingriff,
meist ein Roux-en-Y-Magenbypass(RYGB), einen massiven Eingriff in den
Verdauungstrakt und damit auch in die Physiologie der Ernährung einschließlich
der Sekretion gastrointestinaler Hormone darstellt. Mit diesem Eingriff wird die Nahrungszufuhr und die Aufnahme von Nährstoffen, energieliefernden wie Mikronährstoffen,erheblich beeinträchtigt. Das führt zu einer raschen Besserung der Insulinresistenz und der Blutzuckerkontrolle bei Menschen mit Typ-2-Diabetes, zunächst auch unabhängig von der Abnahme des Körpergewichts, die erst nach Wochen bis
Monaten zum Tragen kommt. Dieses Phänomen ist in der Diabetologie schon lange bekannt. Dort sind seit Jahrzehnten „Hunger“-, „Hafer“- oder „Gemüsetage“ beliebt und bewährt, um durch eine akute massive Kalorienrestriktion eine Insulinresistenz zu „durchbrechen“. Macht die „metabolische Chirurgie“ nichts anderes oder sind es doch zusätzliche, spezifische Effekte, die hier wirksam werden? Wie sieht es nun mit der oft vertretenen „Heilung“ des Typ-2-Diabetes durch die „metabolische Chirurgie“ aus? So eindrucksvoll die Stoffwechselverbesserung nach bariatrischer Chirurgie auch sein mag, von einer Heilung kann beim besten Willen nicht gesprochen werden. Dies hat die prospektive schwedische SOS-Studie bereits vor Jahren eindeutig gezeigt (Sjöstrom et al. NEJM 2004; 351: 2683). Zwei Jahre nach einem chirurgischen Eingriff hatten 72 % der Patienten mit Typ-2-Diabetes eine Remission, 8 Jahre später waren es nur noch 36 %. Die Progression des genetisch determinierten Betazellverlusts läßt sich damit verzögern, aber sicher nicht stoppen. Dennoch ist der durch bariatrische Chirurgie erzielte Effekt auf den Typ-2-Diabetes sehr eindrucksvoll und unterstreicht einmal mehr die Bedeutung des Körpergewichts für die Entwicklung und den Verlauf dieser Erkrankung. In diesem Zusammenhang bedarf ein weiterer Punkt einer kritischen wissenschaftlichen Diskussion. Manche Vertreter der bariatrischen Chirurgie verlangen, die BMI-Grenzen zur Durchführung solcher Eingriffe aufzuheben oder zumindest deutlich zu senken. Bislang besteht Konsens, dass eine Operation erst ab einem BMI von 35 kg/m² in Betracht kommt. Die Sinnhaftigkeit dieser Forderung ist vor dem Hintergrund der aktuellen Datenlage derzeit nicht zu klären, bedarf aber gut angelegter wissenschaftlicher Studien. Führt man sich allerdings vor Augen, dass es in Deutschland derzeit mindestens 1 Million Menschen mit BMI ≥35 und gleichzeitigen Vorliegen eines Typ-2-Diabetes gibt, von denen höchstens 2 000 Personen pro Jahr einen solchen Eingriff erhalten, wird klar, dass dies mehr eine akademische Frage ist. Wir sollten uns daher darauf konzentrieren, unser medizinisches Versorgungssystem so zu verbessern, dass wir diesen Personen einen leichteren Zugang zu bariatrischen Eingriffen ermöglichen, bevor wir über eine Indikationsausweitung
nachdenken.
Prof. Dr. Hans Hauner
Else Kröner-Fresenius-Zentrum
für Ernährungsmedizin, Klinikum
rechts der Isar, München
For personal or educational use only.
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